Der normalste Text der Welt

normal:  

so [beschaffen, geartet], wie es sich die allgemeine Meinung als das Übliche, Richtige vorstellt  

oder  

in [geistiger] Entwicklung und Wachstum keine ins Auge fallenden Abweichungen aufweisend 

Duden 

 

Heute schreibe ich den normalsten Text der Welt. Das sollte möglich sein, schliesslich beschäftigt mich «normales Verhalten» seit meiner Kindheit. Angefangen beim unsicheren Mädchen auf dem Pausenplatz, das unbedingt dazugehören wollte, bis hin zu den zahlreichen Artikeln und Bildern, die mir heute noch normales Verhalten und Aussehen nahelegen möchten. Wie mich die neusten High-Waist-Jeans selbstbewusster machen. Fünf Möglichkeiten, Bauchfett besonders effizient loszuwerden. Und nur ein paar Seiten weiter, immer noch im selben Magazin: die Selbstliebe-Revolution. Alles klar. 

Nicken und lächeln

Normal, das waren für mich stets die anderen. Trotzdem wollte ich mit aller Kraft dahin und mir damit Beliebtheit, Anerkennung und Glück sichern. Für ein hohes Level der Angepasstheit habe ich mich lange abgekämpft. Jeden Satz auf die Goldwaage gelegt, viel zu viel genickt und gelächelt, geblieben, als ich nach Hause gehen wollte. Versucht, hübsch auszusehen, nach den gerade angepriesenen Standards. 

Ist es nicht unsinnig, wertvolle Jahre damit zu verschwenden, in Normen hineinzupassen, die stark von der Zeit, der Gesellschaft, sogar dem Geschlecht abhängig sind? Statt Normen zu hinterfragen, wollte ich lieber darin verschwinden. Konturlos sein. 

In meinem Privatleben ist die Norm ein Instrument der Qual. Ein paar braucht es für das Zusammenleben. Ich spucke zum Beispiel niemandem ins Essen – ehrlich. Viele verursachen aber Unterdrückung und Leid. Der «richtige» Lebensweg, die «richtige» Sexualität, die «richtige» Religion. 

Es ist normal, sich nicht normal zu fühlen

Zurück zum «normal sein». Hier, im normalsten Text der Welt, meine Erfahrung nach jahrelangen Versuchen der Überangepasstheit und des Gefallenwollens: Ich glaube, es ist normal, sich nicht normal zu fühlen. Diese Welt ist einfach komplex, bestenfalls bunt, aber auch schwer verständlich. Dein Normal ist nicht mein Normal. Das gibt guten Diskussionsstoff. 

Heute horche ich auf, wenn jemand von Normalität und normalem Verhalten spricht und «was man tut» und «was man nicht tut». Ich ersetze die Ausdrücke lieber mit «dem Wunsch nach Gewohnheit» oder «der Illusion von Kontrolle». 

Ich konzentriere mich jetzt lieber darauf, was sich für mein eigenes Leben richtig anfühlt. Oft bin ich noch immer ziemlich planlos, aber das spielt auch keine so grosse Rolle. Auf jeden Fall wünsche ich mir aktuell eine Welt nach der Pandemie. Aber für mich muss sie nicht so sein wie davor. Ich hätte gern ein Danach, etwas Neues. Aber das muss warten. Zuerst zur nächsten Seite in der Zeitschrift. Da steht die Wahrheit darüber, wie viel Sex bei Langzeit-Paaren normal ist.

Isabel Zumofen