«Jede Frau ist eine Hure»

Ob es weisse Weihnachten waren, daran erinnere ich mich nicht mehr. Vielleicht hat es draussen geschneit, vielleicht auch nicht. Ich weiss aber noch, wie ich auf einer der unbequemen Bänke in der rappelvollen Kirche unseres Dorfes sitze. Meine Eltern, meine Schwester und ich haben uns zu Verwandten in die Reihe gequetscht.

Ich schwitze. Die Heizung ist mal wieder viel zu heiss eingestellt. Ich verlagere mein Gewicht vom linken Sitzknochen auf den rechten und wieder zurück, lege als Polster meine Hand darunter. Von den obligatorischen Schulmessen jeden Freitagmorgen weiss ich, das macht es etwas bequemer. So sitze ich – etwa neun- oder zehnjährig – viel zu warm angezogen und ungeduldig da. Ich will so schnell wie möglich nach Hause zum Fondue Chinoise und zu den Geschenken unter dem Christbaum.

Der dozierende Pfarrer

Ich rede mir gut zu. Das Gröbste ist bald geschafft, die Lesung ist durch, die Predigt läuft bereits, das Glaubensbekenntnis – der Halbzeitpfiff der Messe – rückt näher. Noch aber steht der Pfarrer am Ambo und predigt von Komponisten und Dichtern. Es ist weniger ein Erzählen sondern vielmehr ein Namedropping der Crème de la Crème der Weihnachtsliederszene. In meiner Erinnerung doziert der Pfarrer, wer was geschrieben, und – vor allem – welcher dieser Komponisten und Dichter unehelich gezeugt worden war. Die Stimme des Pfarrers senkt sich, schweigend, mit dem Kopf nickend blickt er in die Menge. Gleich ist es geschafft, denke ich, gleich holt er zum Schlusssatz aus.

Tatsächlich, der Pfarrer atmet tief ein, hebt seine Hand und fasst das Wesentliche seiner Predigt für alle zusammen: «Jede Frau»– Pause – «ist» – Pause – «eine Hure». Habe ich mich verhört? Bedeutet «Hure» das, was ich denke, fragt sich mein neunjähriges Ich. Die Unsicherheit währt nicht lange. Der Pfarrer setzt zum Glaubensbekenntnis an, ich bete laut mit, in Gedanken bin ich aber längst wieder beim Fondue Chinoise und den Geschenken.

Kuchen backen und Kirche putzen

Über 20 Jahre sind mittlerweile vergangen. Der Satz des Pfarrers aber hallt immer noch nach. Soweit ich weiss, blieb seine Aussage ohne Konsequenzen. Nach der Messe gab es zwar leicht verärgerte Kommentare. Diejenigen, die sich dazu äusserten, waren sich in ihrem Urteil einig: Völlig daneben – für eine Weihnachtspredigt! Aber das war’s dann auch.

Heute wäre solch eine Predigt (hoffentlich) undenkbar – aber nicht etwa, weil die katholische Kirche den Sprung ins 21. Jahrhundert endlich geschafft hätte, sondern weil wir als Gesellschaft dank der Gleichstellungsbestrebungen vieler Menschen egalitärer geworden sind. Frauen nehmen nun dasselbe Recht für sich in Anspruch, welches Männer schon lange haben: Sie definieren selbst, wer sie sind.

Die katholische Kirche propagiert zwar Nächstenliebe und Menschenrechte, benachteiligt aber immer noch strikt die Hälfte ihrer Gefolgschaft. Nicht, dass Frauen in der Kirche unerwünscht wären. Sie sind durchaus willkommen, wenn es darum geht Kuchen zu backen, die Kirche zu putzen und zu schmücken oder dem Pfarrer als «Pfarrjungfrau» den Haushalt zu machen. Solange sie sich als dienstbar erweisen, sind Frauen gut genug für die Kirche. Wollen sie aber mitreden und mitbestimmen, sind sie es nicht mehr.

Die Stimmen der Frauen zählen nicht. Seit 2000 Jahren sind Frauen in der katholischen Kirche aussen vor und dem männlichen Goodwill ausgeliefert. Anstatt sich von diskriminierenden Rollenbildern zu lösen, hält die Kirche eisern daran fest. Daran hat sich auch seit der Weihnachtspredigt, die ich damals als Mädchen gehört habe, nichts geändert.

Die beste Predigt meines Lebens

Über die Worte des Pfarrers habe ich immer wieder nachgedacht. Was er genau bezwecken wollte, ist mir bis heute schleierhaft geblieben. Aber eines muss ich anerkennen: Die Botschaft seiner Predigt war einprägsam und hat nachhaltig gewirkt. So gesehen war es für mich wohl die beste Predigt überhaupt. Sie hat mich darin bestärkt, endlich zu handeln. Anstatt aussen vor zu sein, bin ich lieber gar nicht mehr dabei.

Sabine Steiner