Wäre, wäre, Fahrradkette

Ein Regionalzug, irgendwo in diesem Land. Pommery, den Kopf leicht ans kühle Fenster gelehnt, würdigt die immer schneller vorbeirauschenden Strommasten keines Blickes und trinkt einen Schluck Milchkaffee. Schräg gegenüber sitzt Dijon und gähnt.

Dijon: Ich habe letzte Nacht vom Kraken geträumt. Schon wieder.

Pommery: Hmm.

Dijon: Ich war ja vor ein paar Wochen in den Tauchferien. Trotz Erfahrung hatte ich vor dem ersten Tauchgang wieder Kopfkino.

Pommery: Das Ungeheuer aus der Tiefe, das dich in einem Happen runterschlingt?

Dijon: Genau. Mein Hals war trocken, mein Herz pochte. Ich wollte unbedingt ins Wasser springen und gleichzeitig wollte ich auf keinen Fall ins Wasser springen.

Pommery: So wie als Kind auf dem 3-Meterbrett?

Dijon: Ja!

Pommery: Das kenn ich, aus meiner Kindheit. Mittlerweile gehe ich nicht mehr aufs 3-Meterbrett. Diesen Stress tue ich mir nicht mehr an.

Dijon: Bist du als Erwachsene bequem geworden?

Pommery: Sicher bequemer. Aber auch eitler. Versagen ist nicht schmeichelhaft.

Dijon: Als Kind war mir das scheissegal. Da habe ich oft einfach gemacht. Da habe ich gestrotzt vor Selbstvertrauen.

Pommery: Als Kind fand ich es auch ganz normal, dass mal was nicht gleich beim ersten Anlauf funktioniert.

Dijon: Sonst würde wohl nie ein Kind laufen lernen.

Pommery: Aber jetzt bin ich oft blockiert. Die Leute könnten denken, ich sei dumm. Ich könnte denken, ich sei dumm.

Dijon: Ja, diese Angst, das Gesicht zu verlieren.

Pommery: Was findest du schlimmer, scheitern vor anderen oder scheitern vor dir selbst?

Dijon: Vor mir selbst. Du nicht? Mich selbst muss ich jeden Tag im Spiegel anschauen. Mit mir muss ich immer zusammen sein.

Pommery: Aber noch schlimmer finde ich Stillstand.

Dijon: Alles ist besser als Stillstand.

Pommery: Ich kenne das aus dem Berufsleben.

Dijon: Wie das?

Pommery: Was am Anfang ein Traumjob war, wurde zur Sackgasse. Ich wusste, ich komme hier nicht mehr weiter.

Dijon: Und wie bist du da rausgekommen?

Pommery: Ich habe mit Ende zwanzig mit einem Zweitstudium begonnen.

Dijon: Ein Sprung ins kalte Wasser also. Beruflich und finanziell wieder zurück auf Feld 1.

Pommery: Ich wollte wissen, ob ich das packe. Ich will kein Leben im Konjunktiv.

Dijon: Kein «wäre, wäre Fahrradkette», wie ein weiser Fussballer mal sagte.

Pommery: Und ich habe es gepackt.

Dijon: À la «Träume nicht dein Leben, lebe deine Träume»?

Pommery: Also wenn du’s unbedingt kitschig und abgedroschen haben willst.

Dijon: Du würdest es aber wieder tun.

Pommery: Auf jeden Fall.

Dijon:

Pommery: Was war da eigentlich mit deinen Tauchferien?

Dijon: Ich bin ins Wasser gesprungen. Immer wieder. Nach mehreren Versuchen kam endlich die Belohnung: das Geniessen. Die Fische, die Wracks, die Unterwasserwelt, wunderschön.

Pommery: Und der Kraken?

Dijon: Der hat sich nicht blicken lassen.